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Die Äpfel vom Baum des Lebens

* Liebe Leserinnen, liebe Leser *

„Guten Abend, wer bist du denn?“, fragte der Nikolaus.

„Das kann man doch wohl ganz klar erkennen! Ich bin der Weihnachtsmann“, sagte der Weihnachtsmann und verzog hämisch sein Gesicht.

„Und was machst du?“, fragte Nikolaus, der mit dem respektlosen Ton dieses Mannes aber auch so rein gar nichts anfangen konnte.

„Ich mache genau das, was alle Weihnachtsmänner machen.“

„Und was tun alle Weihnachtsmänner?“

„Was für eine dumme Frage! Wir machen natürlich Promotion oder Werbung, falls dir das mehr sagt. Ich verschenke hier jeden Tag edles Konfekt. Die Leuten sollen schließlich Appetit bekommen. Dann kaufen sie sich die große Packung zu zwölf € neunundneunzig oder die Supersparpackung zu einundzwanzig € neunundneunzig.

Je mehr die Leute heute kaufen, desto zufriedener ist mein Chef, und desto größer ist dann auch meine Provision und die eventuelle Bonuszahlung!“

„Moment mal! Soll das heißen, du verschenkst in Wahrheit gar nichts?“ bohrte Nikolaus weiter.

„Sag mal, tust du nur so oder bist du wirklich so dumm?“, gab der Weihnachtsmann zurück. „Niemand auf der ganzen Welt hat etwas zu verschenken.“

„Ich schon“, erwiderte Nikolaus.

„Du bist ein echt komischer Vogel, Alter. Und was verschenkst du?“

„Äpfel vom Baum des Lebens.“

„Äpfel bringen doch so gut wie nichts ein. Wer ist denn dein Chef?“

Nikolaus verstand nicht ganz. Er musste erst einmal ganz tief Luft holen.

„Mein Herr ist der liebe Gott. Einmal im Jahr darf ich mit seiner Erlaubnis auf die Erde kommen und einen Sack Äpfel vom Baum des Lebens verschenken.“

„WOW, du hast deinen Spruch aber sehr gut gelernt“, sagte der Weihnachtsmann spöttisch. „Dann bist du also der wirklich echte Nikolaus?“

„Ja sicher, wer denn sonst?“

„Geh ein Haus weiter, du Spinner, und grüß mir den Osterhasen!“ Höhnte der Weihnachtsmann, lachte schallend und verschwand in der Dunkelheit.

Auf einem Mauersockel in einer Hofeinfahrt saß ein Junge. Nikolaus ging auf ihn zu.

„Du siehst traurig aus. Stimmt etwas nicht?“

Der Junge wollte eigentlich überhaupt nicht sprechen, aber dann sah er sich den Nikolaus an, fand, dass er einen ganz vertrauenswürdigen Eindruck machte, und entschloss sich, dann doch zu antworten.

„Meine Eltern sind sowas von doof. Ich hatte mir zu Nikolaus Tomb Raider gewünscht, und was haben sie mir geschenkt: Super Mario. Das ist doch was für Babys!“

„Hmmh, Super Mario und Tomb Raider, was sind das für Dinge?“

„Ach du lieber Gott, du verstehst ja genauso wenig davon wie meine Eltern. Mann, das sind Computerspiele. Aber die Erwachsenen haben davon keine Ahnung.“

„Da magst du wohl durchaus recht haben. Aber mal was anderes, magst du einen Apfel?“

„O.k.“, sagte der Junge gelangweilt und dachte sich: ‚Ich mag doch gar keine Äpfel. Aber wenn ich einen nehme, lässt mich der komische Alte bestimmt in Ruhe.‘

Nikolaus gab ihm einen Apfel vom Baum des Lebens und ging weiter. Er war etwas bedrückt und fand es schade, dass er den Jungen nicht verstehen konnte..

Als Nikolaus um die nächste Ecke gebogen war, kickte der Junge den Apfel mit dem linken Fuß quer über die Straße. An einer Hauswand zerplatze der Apfel schließlich.

Ein paar Vögel kamen sofort angeflattert und fingen an, sich um die Apfelstücke zu balgen. Der Junge schaute den Vögeln zu und musste ein wenig lächeln. Zum ersten Mal seit längerer Zeit..

Mit zwei Tüten beladen kam eine junge Frau die Fußgängerzone entlang.

„Darf ich Ihnen einen Apfel schenken?“, fragte Nikolaus.

„Ja, sehr gerne“, erwiderte die Frau. „Oh, der sieht aber gut aus! Wo gibt’s denn die zu kaufen?“

„Diese Äpfel kann man nicht kaufen, die kann man sich nur schenken lassen.

„Hmh, sehr seltsam“, sagte die Frau. „Wissen sie, ich bin immer auf der Suche nach Sonderangeboten. Wir sind zwar nicht arm, aber seit sie meinem Mann das Weihnachtsgeld gekürzt haben, da müssen wir schon sparen. An Weihnachten soll ja für unsere vier Kinder der Gabentisch nicht ganz leer sein.“

Als Nikolaus von den Kindern hörte, schenkte er der jungen Frau noch ein paar Äpfel dazu.

Da man ja nun nicht jeden Tag so einen freundlichen Nikolaus trifft, erzählte die Frau noch ein paar Minuten weiter von ihrer Familie und von ihren Sorgen.

Nikolaus nahm sich Zeit, ihr zuzuhören. Er spürte, dass es ihr guttat, ein wenig zu reden.

Schließlich sagte sie: „So, ich muss jetzt zum Bus. Es war schön, dass ich sie kennenlernen durfte und ich wünsche Ihnen eine schöne Weihnachtszeit.“

Nach dem Abendessen briet die Frau die Äpfel im Backofen. Der Duft füllte die Wohnung.

Eines der Kindern kam auf die Idee, das Licht auszuschalten und ein paar Kerzen anzuzünden.

Es kam eine gemütliche Stimmung auf. Die Frau erzählte von ihrer heutigen Begegnung mit dem Nikolaus in der Stadt, der Mann erzählte den Kindern vom Advent in seiner Jugendzeit, die Kinder fingen an, ihre kleinen Erlebnisse vom Tag zu berichten. 

Die Zeit verging fast wie im Fluge und als es spät geworden war, fiel ihnen auf, dass sie zu ersten Mal seit Monaten vergessen hatten, den Fernseher einzuschalten.

Nikolaus war weitergegangen. Die Geschäfte hatten mittlerweile geschlossen und die Stadt hatte sich ziemlich schnell geleert.

Bis auf zwei hatte der Nikolaus alle Äpfel verschenkt.

Er überlegte gerade, wem er damit noch etwas Gutes tun könnte, da wäre er fast über einen Mann gestolpert, der auf einem Stück Pappe vor dem Eingang eines öffentlichen WC lagerte.

Nikolaus beugte sich zu ihm herunter. Ein Fahne von billigem Fusel wehte ihm vom Mund des Mannes entgegen. Und seine Kleider rochen, wie die Kleider eines Wohnungslosen eben riechen.

„Haschu ma nen Euro für mich?“, fragte der Mann.

„Ich habe kein Geld“, antwortete Nikolaus und setzte sich zu dem Alten auf den Karton.

„Haschu dann wenigstens wasch zu essen?“

„Ja, aber ich habe nur noch zwei Äpfel.“

„Äpfel sind immerhin besser als nichts, aber einer reicht mir schon. Weißt du, Bruder, mehr verträgt mein Magen nicht mehr. Der viele Schnaps hat ihn kaputtgemacht!“

So gut es der Alkohol zuließ, fing der Landstreicher an, zu erzählen. Vieles war bloß zur Hälfte zu verstehen, vieles war völlig durcheinander geraten.

Nikolaus erfuhr so ziemlich alles über Gefängnis, Arbeitslosigkeit, Scheidung, Wohnungskündigung und von einem Leben zwischen Sozialamt und Notunterkunft.

Während der Mann mit seinem Taschenmesser kleine Stücke vom Apfel abschnitt und in den fast zahnlosen Mund führte und so der Redefluss ins Stocken geraten war, fragte Nikolaus:

„Und wo schläfst du heute Nacht?“

„Da wo ich im Winter immer schlafe: hier.“

„Was, hier im Freien?“

„Nein, da drin, im Vorraum vom Herrenklo. Das stinkt zwar ein bisschen, aber es ist wenigstens nicht ganz so kalt!

So, und jetzt ist Schluss für heute“, setzte er plötzlich hinzu. „Danke nochmal für den Apfel.“

Lag es nun an dem süßen Apfel, der ihn von innen zu wärmen schien oder lag es an der Begegnung mit dem seltsamen Fremden?

Jedenfalls konnte der Mann zum ersten Mal seit Monaten wieder eine ganze Nacht durchschlafen. Weder Kälte noch Magenschmerzen weckten ihn und er schlief sieben Stunden!  Das war für den Wohnungslosen schon etwas richtig Gutes.

Nikolaus war weitermarschiert und stand vor einem sehr großen Haus.

„Alten- und Pflegeheim St. Nikolaus“ stand über der großen Eingangstür.

Nikolaus fühlte sich von dem Gebäude regelrecht angezogen. Ihm wurde klar, dass er genau hier seinen letzten Apfel vom Baum des Lebens loswerden würde.

Die Tür war noch offen. In dem Gebäude roch es nach alten Menschen und nach Desinfektionsmittel. Die Flure waren von kalten Neonleuchten erhellt. In einem Stationszimmer mit sehr großen Fenstern sah er die Nachtschwester irgendwelche wichtigen Zahlen in irgendwelche wichtigen Tabellen eintragen. Sie beachtete ihn nicht.

Nikolaus öffnete eine Zimmertür. Er spürte es ganz deutlich und wusste es mit Sicherheit, dass hinter dieser Tür jemand auf ihn wartet. Das Zimmer war vom Nachtlicht schwach erleuchtet. Alles war sauber, fast ein wenig zu sauber. Ordentlich gebettet lag da eine alte Frau in ihrem Pflegebett.

„Wer schickt Sie denn?“, fragte sie. „Kommen sie vom Pfarramt?“

„Nicht verraten“, sagte Nikolaus, „ich bin der Heilige Nikolaus, der echte Nikolaus“.

„Das ist aber schön“, sagte die alte Frau, „dass mal jemand mich besuchen kommt. Wissen Sie, mich besucht nie jemand. Die Schwestern sind ja freundlich und machen ihre Arbeit. Aber sie haben so viel zu tun. Mein Mann ist schon vor 15 Jahren gestorben, Kinder haben wir nicht.

Zu Weihnachten kam mich immer ein Großneffe besuchen, aber diesmal kann er nicht kommen. Es hat mir in einem Brief mitgeteilt, dass er über Weihnachten auf die Kanarischen Inseln fliegt. Vielleicht kommt er ja nach Neujahr noch einmal vorbei, aber die jungen Leute haben ja immer so viele Pläne.“

Ihre Stimme ist zwar frei von Bitterkeit und klingt doch unendlich traurig.

„Ich kann nicht mehr laufen, ich kann kaum noch sehen, mich braucht niemand mehr.“

Ihre Augen wurden feucht und eine große Träne rollte über ihre faltige Wnge.

„Ich habe nur noch einen Wunsch. Du kannst es dir sicher vorstellen, denn es ist genug. Aber es soll schnell gehen und nicht so sehr weh tun. Manchmal glaube ich, sogar der liebe Gott hat mich vergessen.“

„Nein, er hat dich nicht vergessen. Er hat doch mich geschickt.“

Nikolaus fährt der alten Frau liebevoll mit der Hand über die Stirn und sagt:

„Komm, lass uns gehen!“

Die Nachtschwester fand sie zwei Stunden später beim nächsten planmäßigen Rundgang. Ihr Leib war schon ziemlich kalt geworden. Auf ihrem Gesicht jedoch lag ein seliges Lächeln, wie man es bei Toten nur selten findet.

Auf dem Nachtschränkchen lag ein Apfel und verströmte einen wunderbar frischen, süßen Duft.

Einzig wie der dahin gekommen war, konnte sich niemand erklären.

Und was ist die Moral von der Geschicht?

Gib Deinen Mitmenschen Zuwendung und Du selbst wirst ganz sicher strahlen im hellen Licht!

Wie auch immer Ihr Euch fühlt und wo auch immer Ihr seid,

ich wünsche Euch eine gesunde & fröhliche Vorweihnachtszeit.

Euer „alter“ Mann

Werner Michael Heus

 

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