Allgemein

Die eine alles entscheidende Stunde

Liebe Leserinnen, liebe Leser

Die nachfolgende Geschichte zeigt uns meiner Meinung nach auf beeindruckende Art und Weise, wie eine einzige, ganz bestimmte Stunde im Leben, die eine alles entscheidende Stunde werden kann.

Ebenso führt sie uns vor Augen, wie nahe doch tatsächlich Freude und Leid bzw. Glück und Pech beieinander liegen.

In dem Bewusstsein, dass Gertrud Meier wohl erhebliche Herzproblemen hatte, wurde große Sorgfalt darauf verwendet, ihr so sanft wie möglich die Nachricht vom Tod ihres Mannes, Reinhard Meier, zu übermitteln.

Letztlich war es ihre Schwester Anna, die es ihr in gebrochenen Sätzen und mit größtenteils verborgenen Hinweisen „scheibchenweise“ mitteilte. Der beste Freund ihres Mannes, Richard, war ebenfalls anwesend. Er war es, der in der Sicherheitszentrale Dienst hatte, als die ersten Nachrichten über das Flugzeugunglück eintrafen. Ausgerechnet Reinhard Meier lautete der Name, der die Liste der Todesopfer anführte.

Gertrud nahm die Nachricht nicht wie viele andere Menschen wie gelähmt und unfähig etwas zu denken oder zu tun auf. Nein, sie weinte unmittelbar und mit einer plötzlichen, unerwarteten Hingabe in den Armen ihrer Schwester. Nachdem sich der erste Sturm der Trauer gelegt hatte, ging sie alleine in ihr Zimmer. Aus Einfühlungsvermögen und  Respekt folgte ihr niemand. Und dann begann diese eine alles entscheidende Stunde.

Ohrensessel-

 

In ihrem Zimmer befand sich, mit Blick auf das offene Fenster, ein komfortabler, gemütlicher Ohrensessel mit Armlehnen. In diesen sank sie, körperlich und seelisch völlig erschöpft. Eine unsagbar schwere Erschöpfung hatte ihren Körper heimgesucht und schien bis tief in ihre Seele hineinzureichen.

 

Tja, die Sache von wegen Körper, Geist und Seele

Sie konnte auf den freien Platz vor dem Haus direkt in die Baumkronen schauen, die erwartungsvoll auf das kommende Frühlingserwachen warteten. Der köstliche Atem von Regens lag in der Luft. Unten auf der Straße bot ein fahrender Bäcker seine Waren preis. Leise Töne eines Liedes, das jemand weiter entfernt sang, erreichten sie schwach und das trotz der zahllosen Spatzen, die auf dem Dach des Hauses zwitscherten.

Vereinzelt konnte sie den blauen Himmel zwischen den Wolken sehen, die sich in westlicher Richtung hin förmlich übereinander geschoben hatten.

Sie saß, ihrem Kopf auf der Rücklehne abgelegt, regungslos da. Nur wenn wieder ein Schluchzen in ihrer Kehle hochkam, schüttelte sie sich wie ein Kind, das sich in den Schlaf geweint hatte und nun in seinen Träumen weiter schluchzte. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken hin und her.

Sie war noch jung an Jahren, hatte ein hübschen, rundes Gesicht, dessen Linien jedoch eine gewisse Härte verrieten. Aber jetzt waren ihre sonst so fröhlichen Augen starr. Der Blick war vom seelischen Schmerz verzerrt. Gertrud war immer eine starke Frau und wusste genau, was zu tun oder geflissentlich zu lassen war.

Etwas kam in ihr auf und sie wartete ängstlich darauf. Was mochte es wohl sein? Sie wusste es nicht, es war zu subtil und schwer zu benennen. Aber sie fühlte etwas aus dem Himmel schleichen. Sie nahm es durch Geräusche, Düfte und die Farben, die die Luft erfüllten, wahr.

Und dann kam der Moment, wo ihr die gesamten Konsequenzen schlagartig bewusst wurden.

Von einem Moment auf den anderen hob und senkte sich ihr Brustkorb sehr schnell. Sie fing an zu erkennen, was da auf sie zukam, um Besitz von ihr zu ergreifen. Sie war bemüht, es mit ihrer Willenskraft zurückzudrängen. Ihre weißen, schlanken Hände wären dagegen machtlos gewesen. Als sie sich endlich hingab, entkam ein kleines geflüstertes Wort ihren leicht geöffneten Lippen. Sie sagte es immer und immer wieder: „frei, frei, frei!“

Langsam wich das leere Starren und der Ausdruck des Horrors, der gefolgt war, aus ihren Augen. Sie wurde wieder ruhig und besonnen. Ihr Puls schlug schnell und erwärmte das Blut. Langsam entspannte sich jeder Zentimeter ihres gut geformten Körpers wieder, nachdem er zuvor in sich zusammengefallen war..

Sie hörte nicht auf, sich zu fragen, ob es eine eher merkwürdige Freude war, die sie hochhielt, oder nicht. Sie wusste, dass sie wieder weinen würde, wenn sie die friedlichen, zarten Hände im Tod gefaltet, das Gesicht, das nie sicher mit Liebe auf sie geschaut hatte, starr und grau und tot sehen würde. Aber sie sah jenseits dieses bitteren Augenblicks eine lange Reihe von Jahren kommen, die ihr ganz alleine gehören würden. Sie öffnete innerlich ihre Arme und breitet sie aus, um die kommende Zeit willkommen zu heißen.

Es würde niemanden mehr geben, für den sie in den kommenden Jahren in einem festen Schema funktionieren musste; sie würde ab jetzt für sich selbst und ihre eigenen Wertvorstellungen leben. Keinen einzigen Mensch, selbst einen mit noch so einem starken Willen, der ihren eigenen Willen mit gnadenloser Hartnäckigkeit zu verbiegen versucht, wird es je wieder geben. Und keinen dieser Männer, die glauben, ihren eigenen Willen einem anderen Lebewesen kraft souveräner Arroganz auferlegen zu können.

Trotz allem hatte sie ihren Mann doch „irgendwie“ geliebt, zumindest manchmal. In sehr vielen Situationen hatte sie es jedoch nicht getan. Was machte es schon aus! Welchen Stellenwert hat die Liebe im Vergleich zu der Durchsetzungskraft, die sie in diesem Moment als stärksten Impuls in ihrem bisherigen Leben, spürte.

Frei! Leib und Seele sind endlich frei!“ flüsterte sie weiter.

Ihre Schwester, Anna, kniete indessen vor der geschlossenen Tür am Schlüsselloch und flehte um Eintritt. „Gertrud, öffne bitte die Tür! Ich flehe Dich an, öffne die Tür! Du erkältest Dich noch am offenen Fenster. Was, um Himmels willen, machst Du, Gertrud? Öffne bitte, bitte die Tür.“

„Geh weg. Ich werde nicht krank.“

Nein, tatsächlich trank sie so etwas wie das Elixier des Lebens durch das offene Fenster. Und das gab ihr Kraft und einen ganz neuen Lebensmut.

Ihre Fantasie tobte in Anbetracht der Zeit, die sie nun vor sich hatte. Da folgten Frühlingstage, Sommertage und all die anderen Tagen, die sie ab jetzt voll und ganz genießen werden könnte. Sie sprach ein kurzes Gebet für ein langes Leben. Eigentlich schon sehr komisch, denn erst gestern hatte sie mit Schaudern über ein womöglich langes Leben nachgedacht.

Endlich erhob sie sich und öffnete der Aufdringlichkeit ihrer Schwester folgend die Tür. So etwas wie Triumph lag in ihren Augen und unbewusst bewegte sie sich wie eine Siegesgöttin. Sie umklammerte die Taille ihrer Schwester und gemeinsam stiegen sie die Treppen hinab. Richard stand unten und wartete auf sie.

Genau in diesem Moment öffnete jemand die Haustür mit einem Hausschlüssel. Reinhard Meier trat, etwas von seiner Reise gezeichnet, mit gefaltetem Regenschirm und Reisetasche ein. Er war weit vom Unfallort entfernt gewesen und wusste nicht einmal, dass sich ein Flugzeugunglück ereignet hatte.

Erstaunt vernahm er einen Mark und Knochen durchdringenden Schrei seiner Frau Gerda. Sein Freund Richard versuchte mittels einer schnellen Bewegung ihn aus dem Blickfeld seiner Frau zu nehmen.

Aber Richard war zu langsam. Gerda war bereits zusammengesackt und regungslos zu Boden gesunken.

Der Notarzt, der kurze Zeit später eintraf, erklärte, dass sie  einem Herzstillstand erlegen war. Böse Zungen behaupteten später, es sei die Vorfreude auf ein freies, selbstbestimmtes Leben gewesen, die sie getötet habe.

Tja, liebe Leserinnen und liebe Leser, ich denke, dass man diese Geschichte einen Moment lang sacken lassen muss. Da spielen Glück und Pech, Schicksal oder Fügung und viele andere Dinge eine Rolle.

Ich wünsche Euch von Herzen gerne auf all Euren Wegen und in allen erdenklichen Situationen stets das notwendige Quäntchen Glück. Möge Euer Herz immer kräftig und im richtigen Takt schlagen. Toi toi toi wünscht

Euer „alter“ Mann

Werner Michael Heus

 

 

Ein Kommentar

  • Hannelore

    Hallo lieber Werner.
    Ja, die Geschichte ist sehr traurig und macht auch nachdenklich.
    Du hast du sehr gut formuliert und auch klasse erzählt.
    So schnell kann ein Leben zu Ende sein.
    Schönen Abend wünsche ich dir und bleib gesund.

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert